Das unwattierte Herz

15.06.2022

.. in Wunderwatte gepackt

Die Frau aus dem Süden erzählt :

es war einmal ein Herz, es war sorgfältig in weicher Watte eingepackt um gegen jegliche Aussenwirkungen geschützt zu sein. Das Herz konnte zwar fühlen, aber sein Schutzschild filterte nicht nur die negativen Dinge, sondern auch die Positiven.

So war das Herz zwar glücklich und zufrieden in diesem Vakuum und es bemerkte nicht einmal, dass ihm etwas fehlte.
Nun wurde das Herz aufgeweckt und es hatte furchtbare Angst, weil ganz viele ungefilterte Emotionen mit voller Wucht auf es prallten.

Es war Angst, Liebe, Stress, Verwirrung, Leid, Freude................ in einer unglaublichen Stärke. So klopfte es wie wild, schrie nach der Watte und wusste nicht wohin.. .. bis es dann feststellte, dass die Blätter im Wald noch viel grüner waren wie sonst, die Luft viel klarer, der Entdeckungsgeist sehr wach..
Es schien wie wenn Freude und Leid zusammengehörten, denn Beides ist die pure und reine Emotion. Das eine geht ohne das andere nicht, Blockaden sind in beide Richtungen möglich.

Wenn man das Leid blockiert, blockiert man auch die Freude. Wie schön ist es dies einfach anzunehmen und wie schön ist die Entscheidung die Watte nun wegzulassen Es katapultiert einen in ungeahnte Gefühlswelten, wenn man es zulassen kann.

Der Mann aus dem Norden erzählt :

An einem schönen sonnigen Junimorgen lief das Herz vergnügt durch den Wald.

"Ach, welch ein Leben!", dachte das Herz glücklich. "Nirgends fühle ich mich so geborgen wie frühmorgens in meinem Lieblingswald."

Gerade als es, wie jeden Morgen, zwischen zwei besonders knorrigen Eichen über eine Gruppe Pfifferlinge springen wollte, sauste ein kleiner dicker Mann mit einem grünkarierten Sakko hinter der einen Eiche hervor, warf sich unter Gebrüll auf das Herz und riss es zu Boden.

"Aaaaaaah!" rief der kleine dicke Mann mit dem grünkarierten Sakko angriffslustig.

"Aaaaaaah!" schrie das erschrockene Herz, das gar nicht wusste, wie ihm geschah.

Die beiden kugelten einen kleinen Abhang hinunter und kamen in einem Laubhaufen mit einem leichten Rums zum Stehen.

"Hilfeeeee!" schrie das Herz.

"Ja ja, die brauchen sie wirklich!", stellte der kleine dicke Mann fest, ließ das Herz los, stand gelenkig auf und klopfte sich etwas Moos von seinem grünkarierten Sakko, obwohl dies farblich gar nicht aufgefallen wäre. "Stellen Sie sich nur vor, nicht ICH wäre es gewesen, sondern ein rabiater Fiesling!"

"Na ja, ich finde Sie schon etwas rabiat!", fand das Herz.

Der kleine dicke Mann fuhr unbekümmert fort. "Was einem so alles passieren kann! Im Wald! Allein! OHNE SCHUTZ! Man will es sich gar nicht ausmalen!" Er schlug die Hände theatralisch über dem Kopf zusammen. "Hier!" Blitzschnell zog der Mann aus seinem Sakko eine Hochglanzbroschüre und zeigte dem Herz eindringlich die darin aufgeklebten Zeichnungen: Ein Herz, mit einer Beule auf dem Kopf! Ein Herz mit einem gebrochenen Bein! Ein Herz mit einem Messer im, nun ja, Herz. "Wollen Sie etwa, dass Ihnen SO ETWAS geschieht?! Sie sind noch SO JUNG!" jammerte der Sakkomann theatralisch und gestikulierte mit der Hochglanzbroschüre, dass die Fotos herausfielen und wie Herbstlaub auf den Waldboden hinabrieselten.

"Aber glücklicherweise bin ICH ja nun hier!", sagte der Mann stolz. Er hielt dem Herz seine Hand hin, an der noch ein Regenwurm klebte. "Mein Name ist Walter.", sagte er. "Ja, genau, DER Walter! Ich bin Walter von Walter&Walter." Er beugte sich vertrauensvoll zum Herz hinunter. "Sie kennen mich aus dem Fernsehen", verriet er.

"Ich sehe kein fern. Höchstens mal die Wetternachrichten.", entgegnete das Herz.

"Das ist SEHR vernünftig!", fand Walter. "So weiß man immer..." -- er machte einen plötzlichen Satz auf das Herz zu und ergänzte verschwörerisch: "... ob GEFAHR lauert!" Das Herz erschrak. Walter wich wieder etwas zurück und rückte sich den zu kurzen gepunkteten Schlips zurecht. "Ich meine, also, ob es zum Beispiel regnen wird. Oder stürmen. Oder hageln. Wissen Sie, dass es Hagelkörner gibt, die groß sind wie Straußeneier, und mühelos eine Kuh erschlagen können?"

Davon hatte das Herz noch nichts gehört. Aber ihm wurde bei dem Gedanken sehr mulmig. Walter beruhigte es "Aber keine Sorge! Gestatten Sie, dass ich Ihnen eine Sensation präsentiere!" Er zog routiniert aus seinem Sakko etwas heraus, das aussah wie ein großes Knäuel Stahlwolle.

"Ta-taaa!", rief Walter. "'Walter&Walters Wunderwatte'! Zehnmal so formschön wie herkömmliche Watte, hundertmal so stabil wie herkömmliche Watte, UND...", wieder beugte er sich verschwörerisch zum Herz hinunter, "... sie ist IM ANGEBOT!", schwärmte er.

"Was?", fragte verdutzt das Herz.

"Ja", rief Walter entzückt. "Heute nur zum halben Preis! Ach was sage ich, sogar vierzig Prozent Rabatt gibt es!"

"Aber...", wollte das Herz entgegnen.

"Und weil Sie es sind -- ICH MUSS VERRÜCKT SEIN! -- bekommen Sie noch zehn Prozent Supersonderpreisnachlass!" Er warf dem Herz das Knäuel zu. "Los, probieren Sie es an."

Das Herz war sich nicht sicher. "Au", sagte es. "Das Zeug ist stahlhart und piekst."

"Nicht hart, sondern STA-BIL!", proklamierte das Männchen. "Es ist dermaßen haltbar, dass wir Ihnen nicht drei, nicht fünf, nein ZEHN MINUTEN Garantie darauf geben! -- MEIN GOTT, ICH MUSS VERRÜCKT SEIN, DASS ICH IHNEN DIESE KONDITIONEN ANBIETE!", schrie es.

"Aber", sprach das Herz anchdenklich, "ich habe mich gerade an ein Leben ohne Watte gewöhnt. Es ist viel schöner so. Man erlebt viel mehr!"

Das Männchen sah das Herz mit aufgerissenen Augen an! "Ja, haben Sie denn nicht aufgepasst?" Es suchte hektisch die heruntergefallenen Schreckensbilder aus seinem Hochglanzprospekt zusammen und hielt sie dem Herz bebend unter die Augen. "Schauen Sie doch! Was einem alles passieren kann! Hier! Und hier!" Es blätterte nervös die Bilder durch. "Warten Sie, ich habe in der Tasche auch noch Fotos von süßen Katzenbabies. Hier, halten Sie mal!" Er warf dem Herz die Bilder mit der einen Hand zu, während er mit der anderen in seinem Karosakko wühlte.

"Neinnein, nicht nötig", sagte das Herz schnell. "Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht sollte ich es einmal ausprobieren..."

Walter strahlte das Herz an. "Eine GUTE Wahl! 'Walter&Walters Wunderwatte' ist das sicherste, was es derzeit auf dem Markt gibt! Sie werden den Kauf nicht bereuen. Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Anziehen!" Blitzschnell packte er das Herz in die glänzende Stahlwolle ein.

"Aua", rief das Herz. Die Stahlwolle kratzte und zwickte unangenehm und fühlte sich an, als habe man sich in einem Maschendrahtzaun verfangen.

"Bitteschön. Es steht Ihnen ganz ausgezeichnet. Hier, ich lasse Ihnen meine Karte da." Er fummelte aus seinem Sakko ein grünkariertes Kärtchen hervor und wollte es dem Herz in die Hand drücken. Da jedoch das Herz vollkommen in Stahlwolle verpackt war, stopfte er die Karte einfach irgendwo hinein, wo Platz war. "Empfehlen Sie uns all Ihren Freunden und Bekannten! Und vergessen Sie nicht, uns auf facebook zu liken!", rief er im Weglaufen fröhlich. "Tschö mit Ö!" Und das Männchen verschwand singend hinter der knorrigen Eiche.

Zurück auf der Waldeslichtung blieb das Herz. Es war sich nicht ganz sicher, was gerade geschehen war. Aber, so hoffte es, immerhin war es in der Wunderwatte nun bombensicher.

die Frau aus dem Süden erzählt :

Das Herz, nun in Wunderwatte eingepackt, lief vorsichtig tastend, seine Gefühle erforschend weiter. Es schien wie wenn es von einer Umhüllung in die Andere gewechselt wäre.

Watte oder Wunderwatte, was war der Unterschied, oder vielleicht doch. Ist es nicht einfacher geschützt zu sein und gegen jegliche Gefahr gewappnet, waren die Blätter tatsächlich weniger grün wie vorher. Sei´s drum dachte das Herz, jede Watte verdient es zuerst einmal ausprobiert zu werden. Etwas vergnügter machte es sich auf den Weg, hüpfte noch ein wenig vorsichtig, um die Wirkung der Wunderwatte zu testen und pfiff ein Liedchen.
Unterwegs begegnete es seinem Freund dem Schmetterling, dieser flatterte fröhlich an ihm vorbei, hey schmetterling kennst Du mich nicht mehr… der Schmetterling schaute vorsichtig hinter seinen Fühlern hervor und schlug aufgeregt mit den Flügeln, Herz Du bist es, tatsächlich hatte ich Dich nicht erkannt. Du siehst so anders aus, außerdem fühle ich Deine Gegenwart nicht.

So ist das mit der Wunderwatte, dachte das Herz und fühlte sich plötzlich unwohl, dieser Walter hatte zwar einen leichteren Schutz versprochen, aber von unterdrückten Gefühlen stand nichts in der Gebrauchsanleitung. Etwas geknickt verabschiedete sich das Herz von seinem Freund Schmetterling und ging weiter seinen Weg.

Will ich tatsächlich einen Schutz haben, ist es nicht besser frei zu sein und alle Gefühle zu leben. Wild schlug das Herz in der sonderbaren Verpackung, die eher einem Kokon glichen.

Hilfe, dachte das Herz ich muss hier raus und versuchte das künstliche Schutzschild zu öffnen, die Fäden hielten wie ein Korsett und das Herz ermüdete. Es ist wie im Leben dachte das Herz, auch da haben nur die stärksten Herzen die Kraft auszubrechen und sich Allem einfach hinzugeben. Die Schönheit der Welt, die Liebe, den Tränen den Gefühlen, die so rein sind wie zur Anbeginn der Zeit, als noch keine Gedanken da waren, als man geboren wurde und noch keine äusseren Einflüsse hatte, als es keine Watte gab

Das Herz bekam Panik und dachte : Ich muss Walther finden, er muss mich aus dieser Wunderwatte befreien. ………………… aber war das der richtige Weg ?